Was bedeutet es, mit einer Demenzerkrankung zu leben? Wie verändert der fortschreitende Verlust von Erinnerungen und Fähigkeiten das Verhältnis zum eigenen Körper, die Beziehung zu Mitmenschen und das Leben im Alltag? Um das besser zu verstehen, haben Forscher*innen aus den Niederlanden zahlreiche Aussagen von Menschen mit Demenz ausgewertet. Für viele Befragte war es „der Blick der Anderen“*, der am meisten zählte.

„Wenn bei einem eine Demenz diagnostiziert wird, klingt es für andere so, als ob man plötzlich zu nichts mehr fähig ist. Aber eigentlich ist das lächerlich (…) Wissen Sie, ich habe viel Erfahrung, und das ist nicht alles auf einmal weg,“ so lautet eine der Aussagen, die Els van Weijngaarden und Kolleg*innen für ihre Studie gesammelt haben. Auch die folgende Äußerung verdeutlicht den häufig stigmatisierenden „Blick der Anderen“: „Nun, Sie gehen einen Schritt nach unten in der Gesellschaft. Sie gelten nicht mehr als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Und in Diskussionen sind Sie auch eine ‚quantité negligable‘ „. Jemand, der jetzt von allen gemieden wird.“

Demenz-Tagebücher und Interviews ausgewertet

Um die tagtäglichen Erfahrungen von Menschen mit Demenz zu analysieren, haben die niederländischen Forscher*innen zwei Ansätze kombiniert. Zum einen sammelten sie 322 aufgezeichnete Mitteilungen von 16 Betroffenen, die sich an einem Demenz-Tagebuch-Projekt beteiligt hatten. Zum anderen führten sie 37 ausführliche Interviews, in der Menschen mit Demenz zunächst ihre eigene Geschichte erzählten und sich anschließend anhand strukturierter Fragen zu ausgewählten Themen äußerten.  Den Forscher*innen zufolge handelt es sich um eine der wenigen vertiefenden Studien, die Menschen mit Demenz eine Stimme geben. Sie betonen, wie wichtig es ist, diese Stimmen zu hören und anzuerkennen und einen empathischen Einblick in die komplexen Erfahrungen zu vermitteln, mit denen Betroffene tagtäglich konfrontiert sind.

Älterer Mann sitzt auf einer Bank, von hinten.

In ihrer Auswertung kommen die Autor*innen zu der Einschätzung, dass das Leben mit Demenz als eine andauernde, stark beunruhigende Erfahrung verstanden werden kann. Die betroffenen Menschen treten danach in eine sehr unsichere, unvorhersehbare und unklare Lebensphase ein, die häufig mit großer Angst vor der Zukunft verbunden ist. Sie müssten alle Arten von Verlusten hinnehmen, die ihre Beziehungen zu anderen Menschen und der sie umgebenden Welt erheblich und kontinuierlich verändern. Auch die Beziehung zu sich selbst und zu ihrem Körper verändere sich stark.

„Blick der anderen“ ist von enormer Bedeutung

Die offensichtlichste Erkenntnis der Studie ist den Autor*innen zufolge, dass „der Blick der Anderen“ für Menschen mit Demenz von enormer Bedeutung ist. „Sie sehnten sich nach einer sicheren und akzeptierenden Umgebung, fühlten sich aber oft durch neugierige und missbilligende Blicke hinterfragt.“ Die Ergebnisse zeigten auch einen Zusammenhang zwischen den dominanten sozialen Vorstellungen und dem Selbstverständnis der Menschen von Demenz. Ein Großteil des Leidens stamme aus dem Leben im Schatten negativer Vorstellungen.

Der Studie zufolge ist besonders ist die Störung der sozialen Beziehungen eine große Belastung für Betroffene. Die Autor*innen unterstützen daher Forderungen, neben der biomedizinischen und psychologischen Demenz-Forschung stärker den sozialen Kontext der Erkrankung zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang betonen sie die Bedeutung geeigneter sozialer Interventionen. Sie sollen darauf etwa abzielen, die Persönlichkeit zu stärken und ein sinnvolles Engagement zu ermöglichen. Für die Betroffenen gehe es nicht darum, was eine Demenz ist (z.B. eine Krankheit, eine klinische Diagnose, eine Störung der Körperfunktionen, etwas, das geheilt werden muss), sondern darum, was die Krankheit im Alltag bedeutet und bewirkt.

*Wörtlich: „Die Augen der anderen“ („the eyes of others“)

Die vollständige Studie finden Sie hier:
„The eyes of others“ are what really matters: The experience of living with dementia from an insider perspective (April 2019)