Viele Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen sind davon betroffen, doch aus Scham wird selten darüber gesprochen: Der Gang zur Toilette wird im Laufe der Erkrankung zum Problem, Betroffene werden häufig inkontinent. Eine britische Studie nennt mögliche Ursachen, beschreibt die Auswirkungen auf den Alltag und schlägt Lösungen vor.
Die Autor*innen um Catherine Murphy von der Universität Southampton weisen zunächst auf die Dringlichkeit des Themas hin: Bei Menschen mit Demenz sei die Wahrscheinlichkeit von Inkontinenz oder anderen “Toilettenproblemen” deutlich höher als bei gesunden Gleichaltrigen. So sei die Wahrscheinlichkeit einer Harninkontinenz-Diagnose drei Mal so hoch, die einer Stuhlganginkontinenz-Diagnose sogar vier Mal so hoch. Die Folgen sind nicht nur für Erkrankte und ihre Pflegenden gravierend, sondern auch für das Gesundheitssystem: Inkontinenz, so die Forscher*innen, sei ein bekannter „Kipppunkt“ für den Umzug in ein Pflegeheim.
45 Teilnehmende, darunter nur 2 Menschen mit Demenz
Mit ihrer Studie wollten die Autor*innen daher die Bandbreite der Ursachen und Folgen sowie mögliche Lösungen aufzeigen. Dazu führten sie ausführliche Interviews mit Menschen mit Demenz, pflegenden Angehörigen und professionellen Pflegekräften. Angesprochen wurden die Teilnehmenden über eine Webseite, Betreuungsgruppen oder die Arbeitgeber. Insgesamt nahmen 45 Personen an der Studie teil, darunter 26 pflegende Angehörige, 2 Menschen mit Demenz und 17 professionelle Pflegekräfte. Trotz ihrer Bemühungen gelang es den Autor*innen nicht, mehr Menschen mit Demenz zu gewinnen – dies geben sie selbst als eine der Schwächen der Arbeit an.
Die Ursachen für Inkontinenz sind oft komplex
Die Ursachen für die beschriebenen Probleme bei der Toilettenbenutzung und Inkontinenz waren vielschichtig. Einige hingen direkt mit der Demenz zusammen: Zum Beispiel wussten Betroffene mitunter nicht mehr, wie man die Toilette benutzt, konnten die entsprechenden Körperfunktionen nicht mehr ausreichend wahrnehmen oder auch Inkontinenz-Produkte wie Einlagen nicht erkennen. Daneben gab es auch körperliche Gründe für die Inkontinenz, etwa bestehende Blasen- oder Darmprobleme und eingeschränkte Beweglichkeit oder Geschicklichkeit.
“Angst vor dem Verlust der Würde”
Eine große Rolle spielten psychologische und soziale Faktoren. So berichteten Teilnehmende von der “Angst vor dem Verlust der Würde und der sozialen Peinlichkeit”. Nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Angehörigen hätten Schwierigkeiten, über die Probleme zu sprechen. So heißt es in der Studie: “Einige hatten das Gefühl, dass ihnen die Sprache fehlte, sie wussten nicht, wie sie das Gespräch beginnen sollten, oder sie fühlten sich schuldig, weil sie den Angehörigen mit Demenz ‘verraten’ hatten, indem sie sein Inkontinenz-‘Geheimnis’ preisgaben.”
Starke Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen
Die Probleme rund um den Toilettengang wirkten sich den Angaben zufolge stark auf das Leben der Betroffenen aus. Zum einen wurden körperliche Folgen wie geschädigte Haut genannt, zum anderen psychische wie Scham, Verzweiflung oder sogar Selbstekel. Die Angehörigen litten ebenfalls unter gesundheitlichen Problemen, vor allem durch die Erschöpfung und die ständige Anspannung: „Man ist die ganze Zeit gestresst, weil man eigentlich nicht weiß, wann es kommen wird”, lautete eine Aussage. Auch von Selbstvorwürfen, wenn etwas fehlschlug, Unbehagen oder Abscheu war die Rede: „Ich kann mich daran erinnern, dass ich beim ersten Mal, als ich mich um einen schmutzigen Po kümmern musste, in Tränen ausbrach“, sagte eine Teilnehmende.
Beziehung zwischen Pflegepersonen und Angehörigen verändert sich
Die geschilderten Probleme veränderten häufig die Beziehung zwischen den Erkrankten und ihren pflegenden Angehörigen. Es zeigte sich, dass die Belastung so groß werden kann, dass ein Übertritt ins Heim erwogen wird. So beschrieb eine Teilnehmende: „Er hat nicht nur auf den Boden gepinkelt, sondern auch etwas anderes gemacht. Und dann wurde mir klar, dass ich das nicht mehr machen konnte. Mit dem Pipi konnte ich umgehen, aber nicht mit dem anderen“. In diesem Zusammenhang wurden auch Schäden im eigenen Zuhause genannt, etwa verschmutzte oder geruchsintensive Teppiche, sowie finanzielle Auswirkungen, zum Beispiel der durch den Kauf von Inkontinenz-Produkten, den Austausch von Teppichen und die vermehrte Wäsche.
Die professionellen Pflegekräfte zeigten sich frustriert darüber, dass sie keine bessere Unterstützung leisten können. Eine Aussage lautete: „Es ist keine Lösung, den Menschen einfach nur Einlagen zu geben. Und das macht mich wahnsinnig. Es gibt andere Dinge, die man tun kann.“
Welche Lösungen gibt es?
Doch was genau kann man tun? Welche Lösungen sehen die Autor*innen der Studie? Zum einen hätten sich alle Pflegenden frühere und bessere praktische Informationen über Inkontinenz bei Demenzerkrankungen gewünscht. Zudem sollten pflegende Angehörige besser dabei unterstützt werden, Strategien zu entwickeln, um mit den emotionalen und praktisch-pflegerischen Problemen umzugehen. Hier fehlte den Teilnehmenden vor allem direkte persönliche Unterstützung. Auch benutzerfreundliche Inkontinenz-Produkte wurden als wichtiger Punkt genannt, ebenso “demenz- und inkontinenzfreundliche Umgebungen”, zum Beispiel ausreichend geräumige Behindertentoiletten im öffentlichen Raum.
Routinen einrichten, Umgebung anpassen, Technologien nutzen
Weitere Vorschläge zielten darauf ab, die Unabhängigkeit der Betroffenen zuhause zu fördern, etwa durch eine frühzeitige Einrichtung von Routinen, Zugang zu Geräten wie Handurinalen und die Anpassung von Badezimmern. Ein Schlüsselbereich war den Autor*innen zufolge die Technologie, die von fortschrittlichen, komfortablen Materialien für Inkontinenz-Produkte über virtuelle Assistenten (zum Beispiel Alexa) für die Aufforderung zur Toilettenbenutzung bis hin zur Einbindung von Sensortechnologie reicht.
(Ein Beispiel für Sensorik im Inkontinenz-Bereich ist “inContAlert”, das von Forschern aus Bayreuth entwickelt wurde.)
Erkenntnisse als erster Schritt hin zu Verbesserungen
Die Studie bietet den Autor*innen zufolge die erste umfassende Analyse zu diesem stark tabuisierten Thema. Demenzbezogene, körperliche, psychologische, soziale und pflegerische Faktoren überlagerten sich zu vielschichtigen Problemen, die oft negative Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen hätten. “Dieses neue Verständnis ist ein erster Schritt hin zu der Entwicklung dringend benötigter praktischer und umsetzbarer Interventionen für diese unterversorgte Gruppe.”
Hier finden Sie die Studie:
Problems faced by people living at home with dementia and incontinence: causes, consequences and potential solutions (Dez 2020)