Die meisten Menschen kennen Dr. Sarah Straub (38) von zahlreichen Auftritten als Musikerin in ganz Deutschland. Doch sie ist auch Spezialistin für frontotemporale Demenz und behandelnde Neuropsychologin am Universitätsklinikum Ulm. Dort forscht sie über Menschen mit Demenz und deren pflegende An- und Zugehörige. Als Künstlerin und als Demenzexpertin versteht sich als Mutmacherin. Dr. Sarah Straub klärt über die Demenz-Erkrankung auf und wünscht sich von unserer Gesellschaft einen sensibleren Umgang mit Menschen mit Demenz. Im Interview mit Ilona Hörath spricht sie über ihre persönlichen Erfahrungen mit Demenz, was ihr das Arbeiten mit Demenz-Patientinnen und -patienten bedeutet und wie sie das Thema Demenz künstlerisch in ihrer Musik verarbeitet.
Sie führen ein Leben zwischen Bühne und Klinikalltag, schreiben Liedtexte, fachärztliche Befunde und arbeiten auch streng wissenschaftlich. Wie gelingt Ihnen eigentlich dieser Spagat?
Es erfordert sehr viel Disziplin. Ich habe mich ganz bewusst für beide Berufe entschieden, weil ich beide Berufe liebe und es nie geschafft habe, mich für einen zu entscheiden. Ich versuche, beide Welten zu kombinieren und auf der Bühne über Demenz zu sprechen und umgekehrt die Musik in die Klinik zu holen. Es ist sinnstiftend und erfüllt mich. Ich habe nicht das Gefühl, dass mir etwas im Leben fehlt.
Als Musikern sowie als Autorin und Psychologin haben Sie gleich zwei Berufe. Worin liegt Ihre Berufung?
Meine Berufung liegt in beiden Berufen. Früher dachte ich, die Musik sei mein Beruf, denn ich sehe, wie ich in der Musik aufblühe. Auch das Arbeiten mit Menschen mit Demenz ist mehr als ein Beruf, in dem ich mehr geben möchte als es dieser Beruf erfordert. Beide Berufe liegen mir am Herzen.
Warum ist das Arbeiten mit Demenz-Patientinnen und -patienten für Sie ein Herzensthema?
Ich fühle mich den Betroffenen sehr nahe, habe einen Draht zu ihnen und bin gerne mit ihnen zusammen. Ich will eine Atmosphäre schaffen, damit sie sich wohlfühlen. Doch es ist auch eine persönliche Betroffenheit. Meine Oma und mein Schwiegervater waren an Demenz erkrankt. Als ich Anfang 20 war, ist meine Oma, die mir sehr nahestand, schwer gestürzt und erlitt eine Hirnblutung. Ihr Hirn war dadurch von einem Tag auf den anderen schwer geschädigt. Wir hatten keine Zeit, in die Situation hineinzuwachsen. Ich habe versucht, mit meiner Oma den Alltag zu bewältigen. Aus heutiger Sicht wissen wir, dass meine Oma bereits zuvor eine beginnende vaskuläre Demenz hatte.
Führte die Demenz-Erkrankung Ihrer Oma dazu, dass Sie sich in Ihrem Psychologiestudium auf Demenz spezialisiert haben?
Ja, ich hatte das Studium zunächst ohne große Ambitionen begonnen für den Fall, dass es mit der Musik nicht klappt. Während des Studiums ist meine Oma erkrankt. So kam bei mir der Wunsch auf, mehr zu erfahren über Neuropsychiatrie und neurodegenerative Erkrankungen.
Und Ihr Schwiegervater?
Meinen Schwiegervater habe ich begleitet, als ich schon Demenzexpertin war. Aber auch da habe ich mich mitunter überfordert gefühlt. Man kann noch so viel wissen, manchmal gibt es keine gute Lösung ad hoc, um eine Situation gut zu meistern.
Was raten Sie Betroffenen?
Die Menschen brauchen sehr viele Informationen und müssen selbst zu Demenzexperten werden, um Betroffene gut begleiten zu können. Pflegende Angehörige fühlen sich oft auch persönlich verletzt, wenn die an Demenz erkrankten nahestehenden Personen sich anders verhalten als früher. Deshalb muss ich wissen, was das Krankheitsbild bedeutet. Wichtig ist es auch, sich so früh wie möglich nach Unterstützungsangeboten umzuschauen. Man muss sich eigentlich zu einem Zeitpunkt beraten lassen, wo man Unterstützungsleistungen noch nicht braucht, damit man sie sofort abrufen kann, wenn es nötig wird. Die Frage ist: Was braucht man jetzt, was später?
Für pflegende An- und Zugehörige hat digiDEM Bayern den digitalen Online-Fragebogen DEMAND® entwickelt.
Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, solche Angebote wie den DEMAND® zu nutzen. Gerade dieser Fragebogen hilft enorm, die eigenen Versorgungsbedarfe überhaupt zu erkennen und dann gezielt Unterstützungsangebote zu erhalten. Zuhause am Computer zu recherchieren, muss niederschwellig sein. Was man von zuhause aus erledigen kann, ist perfekt und die meisten Menschen sind mit dem Computer vertraut. Ich wünsche mir, dass Menschen mutig sind, die Angebote zu nutzen und mit der Krankheit umgehen lernen.
Eines der Ziele von digiDEM Bayern ist es, Demenzwissen zu vermitteln und über Demenz zu informieren. Wie wichtig sind wissenschaftlich belegte Erkenntnisse?
Ich komme ja aus der Wissenschaft. Es ist mir daher auch ein persönliches Anliegen, nur mit Informationen zu arbeiten, die wirklich wissenschaftlich belegt sind. Dieses fundierte Wissen möchte ich weitergeben. Ich empfinde es auch als wichtig, Angehörige zu schulen, damit sie den Filter setzen können, was gut ist und was nicht. Hier geht es auch zum Beispiel um das Für und Wider bestimmter Demenz-Therapien. Familien sind da teilweise bereit, viel Geld zu investieren, weil sie große Hoffnungen auf ein Verfahren oder einen Wirkstoff setzen. Gibt es aber keine klaren wissenschaftlichen Wirknachweise, möchte ich die Familien ermutigen, kritisch zu bleiben.
Wenn Sie am Universitätsklinikum Ulm Menschen mit Demenz behandeln: Was ist Ihnen dabei wichtig?
Aus medizinischer Sicht halte ich im Umgang mit Menschen mit Demenz nicht-medikamentöse Therapien für sehr sinnvoll. Wir müssen unser Gehirn trainieren wie ein Sportler seine Muskeln. Ergotherapie, Kunsttherapie oder Musiktherapie sind hilfreiche Methoden, um vorhandene Ressourcen zu stärken und den geistigen Abbauprozess zu verlangsamen. Wichtig ist, dabei auch den ganzen Menschen zu betrachten. Wer war und wer ist dieser Mensch, wo sind seine Neigungen? Womit kann man ihm ermöglichen, auch an sein Selbst anzuknüpfen?
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Bei meiner Oma war es zum Beispiel das Gebet. Oma hatte durch ihre demenzielle Erkrankung kaum noch bewusste Erinnerungen und schwere Sprachstörungen, aber sie konnte immer noch fehlerfrei beten und ich spürte dann jedes Mal, dass sie da auch wieder einen Bezug zu ihrer eigenen Biografie bekam. Das sind Wohlfühlmomente, die kann man nicht hoch genug halten. Das Essen kann ein Genuss sein, der angenehme Erinnerungen „triggert“, oder die Musik. Diese Ressourcen bei meinen Patientinnen und Patienten zu finden, das ist das A und O, um Menschen mit Demenz auf Augenhöhe zu begegnen. Für sie wird die Welt so klein, aber wir können großartige Wohlfühlmomente schaffen und diese Momente gemeinsam genießen.
Sie sprechen von Biographiearbeit in der Therapie, von Triggern und Momenten, in denen sich die Patientinnen und Patienten wieder spüren. Was berührt Sie persönlich am meisten?
Ich sehe in Pflegeheimen häufig, dass die Bewohnerinnen und Bewohner kaum besucht werden. Es ist ein Irrglaube zu denken, der Opa bekommt doch eh nichts mehr mit. Ein Gefühl von Vertrautheit ist trotzdem da. Für meinen erkrankten Schwiegervater war sein geliebter Rasenmäher ein Trigger. Zu einem Zeitpunkt, als er schon schwer an Demenz erkrankt war und wir das Gefühl hatten, dass er nichts mehr richtig wahrnehmen kann, nahm er plötzlich seinen Rasenmäher, lief mit diesem zielgerichtet und komplett orientiert über zwei Kilometer zur nächsten Tankstelle, fand die richtige Zapfsäule und betankte ihn. Ich persönlich habe diese Situation gefeiert! Ich war so glücklich zu sehen, welche Ressourcen mein Schwiegervater noch hatte, wir hatten ihn zuvor wirklich unterschätzt. Nun wussten wir, was ihn aktivieren kann und ihm ermöglicht, sich an sich selbst zu erinnern. Von diesem Zeitpunkt an haben wir ihn wieder seinen Rasen mähen lassen (natürlich mit Hilfe und unter Aufsicht). Gefühle werden nicht dement, das Herz wird nicht dement. Auch ein Mensch ohne bewusste Erinnerung an sein Leben kann Positives erleben.
Sie schreiben eigene Texte, seit sie 12 Jahre alt waren. Wie wichtig ist es Ihnen, heute Ihre Erfahrungen mit Menschen mit Demenz künstlerisch in der Musik zu verarbeiten?
Das ist mir inzwischen superwichtig. Ich mute meinem Publikum demenzspezifische Themen zu und sie sind dankbar. Mein Publikum besteht ja nicht per se aus pflegenden Angehörigen, aber doch sind immer Menschen auf meinen Konzerten, welche in ihrem nahen Umfeld betroffen sind. Ich versuche, mit einer Leichtigkeit drüber zu sprechen, und ich erlebe, dass Menschen beim Thema Demenz positiv und emotional reagieren. Ich möchte Fürsprecherin sein, Wissen über Demenz vermitteln und Mut machen, offen damit umzugehen.
Woher nehmen Sie die Inspiration für Ihre Liedtexte wie zum Beispiel für „Schwalben“ und für wen haben Sie dieses Lied geschrieben?
Mich inspiriert alles, was mich emotionalisiert. Auch die Arbeit in der Klinik zählt dazu. Ich habe oft tragische Schicksale vor mir sitzen. Dies braucht ein Ventil bei mir. Das Lied „Schwalben“ ist eine Hommage an pflegende Angehörige. Damit möchte ich diesen Menschen ein Gesicht geben und Mut machen.
Was bedeutet Glück für Sie?
Das Glück liegt für mich in Kleinigkeiten. Wenn mich zum Beispiel ein Patient in der Klinik anlächelt. Wenn ich sehe, dass Menschen aus meinen Konzerten glücklich nach Hause gehen. Am meisten macht mich meine Familie glücklich. Ich habe vier jüngere Geschwister, die ich über alles liebe. Mit ihnen Zeit zu verbringen, ist wahres Glück.
Frau Straub, herzlichen Dank für das Gespräch.
In Musikvideo trägt Dr. Sarah Straub ihr Lied „Schwalben“ gemeinsam mit ihrem musikalischen Partner, dem Liedermacher, Komponisten und Autor Konstantin Wecker, vor.