Gewalt, Vernachlässigung, Missbrauch – negative Erfahrungen in der Kindheit können Menschen ihr Leben lang prägen. Doch können sie auch das Demenz-Risiko erhöhen? Diese Frage hat ein japanisches Forscherteam untersucht.
Yukako Tani und seine Kolleg*innen weisen zunächst darauf hin, dass Kinderarmut und mangelnde Bildung bereits mit einem erhöhten Risiko für geistige Beeinträchtigungen in Verbindung gebracht wurden. Studien zufolge seien die Lebensbedingungen während der Kindheit entscheidend, um geistige Reserven zu entwickeln, die wiederum einer Demenz vorbeugen könnten. Die Zusammenhänge zwischen Demenz und anderen negativen Kindheitserfahrungen seien jedoch noch nicht gut erforscht.
Land mit der höchsten Lebenserwartung
Hier setzt die aktuelle Arbeit von Tani und seinem Team an, die den Zusammenhang zwischen negativen Kindheitserfahrungen und dem Auftreten von Demenz untersuchten. Sie betonen, dass Japan aus zwei Gründen einzigartig für eine solche Studie ist: Erstens hätten Japaner die höchste Lebenserwartung weltweit. Daher hätten sehr viele ältere Personen an der Studie teilnehmen können. Zweitens hätten ältere Japaner*innen den Zweiten Weltkrieg erlebt, der mit negativen Kindheitserfahrungen in Verbindung gebracht werden könne.
Für ihre Untersuchung werteten die Autor*innen die Daten von 17.412 Frauen und Männern aus. Sie wurden vor 1948 geboren und wuchsen somit während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit auf. Die Daten stammen aus einer großen japanischen Bevölkerungsstudie über Gesundheit im Alter. Für die aktuelle Untersuchung wurden sie im Zeitraum von 2013 bis 2016 analysiert. Zum Studienbeginn waren die Teilnehmenden körperlich und geistig unabhängig. Im Verlauf der drei Jahre beobachteten die Forscher*innen dann, ob sich eine Demenz entwickelte.
Sieben Kategorien für negative Kindheitserfahrungen
Negative Erfahrungen in der Kindheit wurden durch eine Befragung erfasst. Dabei gab es sieben Kategorien: elterlicher Tod, elterliche Scheidung, elterliche Geisteskrankheit, Gewalt in der Familie, körperliche Misshandlung, psychische Vernachlässigung und psychologischer Missbrauch. Die Teilnehmenden wurden nach Anzahl der negativen Kindheitserlebnisse unterteilt: 0, 1, 2 oder 3 oder mehr.
Die einzelnen negativen Kindheitserfahrungen kamen bei Frauen und Männern ähnlich häufig vor, es gab keinen größeren Unterschied zwischen den Geschlechtern. Am häufigsten wurde der elterliche Tod genannt, an zweiter Stelle stand psychologische Vernachlässigung. Die Wissenschaftler*innen fanden zudem heraus: Diejenigen, die negative Erfahrungen in der Kindheit gemacht hatten, verfügten über ein niedrigeres Bildungsniveau, waren eher unverheiratet, nahmen weniger am gesellschaftlichen Leben teil, hatten eher eine Rauchergeschichte und waren mit größerer Wahrscheinlichkeit an Depressionen erkrankt.
Drei oder mehr negative Erfahrungen erhöhen das Demenzrisiko
Knapp 30 Prozent der Teilnehmenden berichtete über eine negative Kindheitserfahrung. 5,5 Prozent gaben an, zwei solcher Erfahrungen gemacht zu haben. 2 Prozent nannten drei oder mehr entsprechender Erlebnisse. Die Wissenschaftler*innen verknüpften diese Angaben mit dem Auftreten von Demenz und fanden heraus: Diejenigen mit drei oder mehr negativen Kindheitserfahrungen hatten ein höheres Risiko, an Demenz zu erkranken, als Teilnehmende, die ohne solche Erlebnisse aufwuchsen. Eine einzige negative Erfahrung erhöhte das Demenzrisiko allerdings nicht.
Zusammenhang zwischen körperlichem Missbrauch und Demenzrisiko
Dennoch stellten die Autor*innen fest, dass körperlicher Missbrauch deutlich mit dem Auftreten von Demenz in Zusammenhang stand – möglicherweise durch Schädigungen des Gehirns infolge von Gewalt. Insgesamt entwickelten 703 der Proband*innen während des dreijährigen Studienzeitraums eine Demenz. Pro 100.000 Personenjahre (Jahre, die die Teilnehmenden zur Studie beitragen) gab es 3,4 Demenz-Fälle unter denjenigen, die ohne negative Erfahrungen in der Kindheit aufwuchsen. Bei Personen mit drei oder mehr dieser Erfahrungen zählten die Autor*innen hingegen 6 Fälle.
Die Studie zeigt somit einen Zusammenhang zwischen drei oder mehr negativen Kindheitserfahrungen und Demenzerkrankungen bei älteren japanischen Erwachsenen. Durch soziale Beziehungen und einen gesunden Lebensstil wurde dieser Zusammenhang jedoch etwas abgemildert, was auf die schützende Wirkung dieser Faktoren hindeutet.
Die Autor*innen weisen darauf hin, dass die Ergebnisse möglicherweise nicht auf andere Generationen und Kulturen übertragen werden können und empfehlen weitere Forschung zum Thema.
Hier finden Sie die Studie:
Association Between Adverse Childhood Experiences and Dementia in Older Japanese Adults (Feb 2020)